Skelett: Statik und Motorik

Skelett: Statik und Motorik
Skelett: Statik und Motorik
 
Zwei Größen bestimmen maßgeblich den Aufbau des Stützapparates oder passiven Bewegungsapparates des Menschen: die Schwerkraft der Erde und die Massenträgheit seiner eigenen Körperteile. Die den Körper aufrecht haltenden und bewegenden Muskeln leisten auch in Ruhe ständig Arbeit gegen die Beschleunigung durch die Massenanziehung der Erde. Für den Menschen ist es genauso wichtig, alle Lebensfunktionen unter dem unentrinnbaren Einfluss der Schwerkraft mit möglichst geringem Energieaufwand aufrechtzuerhalten, wie Sauerstoff zu atmen und genügend Wasser zu trinken.
 
Bestandteile und Funktion des Stützapparates
 
Die drei wesentlichen Bauelemente des passiven Bewegungsapparates sind die Knochen, Gelenke und Bänder. Obwohl Sehnen natürlich passiv sind, übertragen sie die durch Muskeln erzeugten Kräfte und bilden mit ihnen den aktiven Bewegungsapparat. Knochen müssen einerseits die bei Stützfunktionen auftretenden Druckkräfte aushalten, andererseits den enormen, von den Muskeln erzeugten Zugkräften widerstehen und diese übertragen. Hierbei gewährleisten die unter Druckbeanspruchung stehenden Gelenke möglichst reibungsarme Bewegungen zwischen den beteiligten Knochenelementen. Das ermöglichen besonders druckfeste milchig transparente Gelenkknorpel, die als Überzug die Gelenkköpfe und die Gelenkpfannen auskleiden. Ernährt und geschmiert wird dieser durchscheinende Knorpel durch einen dünnen Flüssigkeitsfilm der Gelenkflüssigkeit. Die Bänder hingegen begrenzen das Ausmaß des Bewegungsumfanges in den Gelenken.
 
Die maximalen Druckbelastungen der Knochensubstanz liegen bei etwa 120 N/mm2. Die Druckfestigkeit des Knochengewebes ist vom Mineralisationsgrad der Knochensubstanz abhängig, die Widerstandsfähigkeit gegen Zug hingegen maßgeblich von der Dichte und Beschaffenheit der Kollagenfasern im Knochen. Bei den Röhrenknochen der Extremitäten liegt die Zugfestigkeit bei etwa 80 N/mm2, und damit nur um etwa 20 Prozent unter jener von Sehnengewebe, deren Kollagensubstanz eine maximale Reißfestigkeit von etwa 95 bis 100 N/mm2 besitzt. Kollagen hat damit etwa die Zugfestigkeit eines Stahls mittlerer Qualität. Da die Zugfestigkeit etwa um ein Drittel niedriger ist als jene gegen Druckbeanspruchung, zerreißt bei einem Knochenbruch (Fraktur) das Knochengewebe auf der zugbeanspruchten, äußeren Seite des Knochens.
 
Das Skelett
 
Wie alle anderen Säugetiere auch, besitzt der Mensch ein Innenskelett in Form eines Knochengerüstes oder Gebeins. Das menschliche Skelett besitzt nach üblicher Zählweise 202 bis etwa 208 Knochen. Hinzu kommen noch einige Knochen, die nicht dem Stützapparat angehören.
 
Der Schädel besteht normalerweise aus 18, manchmal aber auch aus 21, selten noch mehr einzelnen Knochen. Bei manchen Menschen bleibt das paarig angelegte Stirnbein auch im Erwachsenenalter geteilt. Gelegentlich kommen einzelne oder mehrere »Inkabeine« vor. Diese Knocheninseln, vornehmlich im Scheitelbein- und Hinterhauptsbeinbereich, gehören zwar eigentlich zu den benachbarten Elementen, können aber zum Beispiel bei Grabungen als isolierte Knochen gefunden werden.
 
Die Wirbelsäule besteht meist aus 26 bis 29 Wirbelknochen, einschließlich des Kreuzbeins, das aus 5 Wirbeln zu einem Knochen verschmolzen ist, sowie 0 bis etwa 3 freien Steißbeinwirbeln. Auf beiden Körperhälften gibt es je 12 Rippen sowie ein Brustbein (Sternum), 32 Knochen der oberen Gliedmaßen (Schultergürtel, Arm und Hand), einschließlich der üblicherweise mitgezählten Erbsenbeine in der Handwurzel, und 31 Knochen der unteren Gliedmaßen (Beckengürtel, Bein und Fuß), einschließlich der üblicherweise mit aufgeführten Kniescheiben.
 
Außer dem Erbsenbein und der Kniescheibe kommen noch auf jeder Körperseite etwa 8 bis 9, also 16 bis 18 weitere Sesambeine hinzu, davon 8 alleine an den Händen: 2 am Daumen, 1 am Zeigefinger und 1 am kleinen Finger. Als knöcherne Bestandteile von Sehnen haben sie, mit Ausnahme der Kniescheibe, normalerweise keine unmittelbare Beteiligung an Gelenken. Sie gehören im engeren Sinne nicht zum Skelett. Wenn man sie als knöcherne Elemente, wie auch Kniescheibe und Erbsenbein, mitzählt, besitzt der Mensch je nach Zählweise also rund 202 bis 229 einzelne Knochen.
 
Bei dieser Aufzählung ist jedoch noch zu berücksichtigen, dass eine ganze Reihe von Skelettteilen erst im Laufe des Heranwachsens knöchern verschmelzen und sich eigentlich aus mehreren Einzelknochen zusammensetzen. So besteht etwa das Brustbein bis ins Erwachsenenalter oft aus drei knorpelig verbundenen Anteilen, sodass die Anzahl der Knochen je nach Auffassung und anatomischen Varianten mit 202 bis sogar rund 232 angegeben werden könnte. Aber auch hierbei sind kleine, manchmal bei völlig gesunden Menschen als natürliche Variante auftretende Knochen nicht mitgezählt, wie zum Beispiel die beiden kleinen Ossa suprasternalia, für die es wohl gar keinen deutschen Namen gibt, und die sich, ihrer wissenschaftlichen Bezeichnung gemäß, zuweilen am oberen Ende des Brustbeins befinden. Auch überzählige Rippen kommen gelegentlich vor. Wie man auch immer zählt, dürfte es wohl kaum einen gesunden Menschen geben, der über 240 Knochen besitzt.
 
 Der Mensch, ein aufrecht gehendes Tier
 
Der Mensch ist nicht nur der einzige normalerweise aufrecht stehende und gehende Vertreter der Primaten, sondern auch aller Säugetiere. Während das zweifüßige (bipede) Springen von Kängurus völlig andere Funktionsabläufe erfordert, sind die nächsten biped gehenden Verwandten des Menschen die Vögel, zum Beispiel Strauße oder Störche. Mit dieser einzigartigen Stellung innerhalb der Säugetiere gehen eine ganze Reihe funktionell-anatomischer Besonderheiten des Menschen einher. Besonders betreffen sie die Wirbelsäule und die unteren Extremitäten, also den Beckengürtel, der den unteren Gliedmaßen zugehört, sowie Beine und Füße.
 
Statik des Achsenskeletts
 
Je nach Anzahl der freien Elemente des Steißbeins hat unser Achsenskelett, die Wirbelsäule, meist 26 bis 29 einzelne Knochen. Wegen der Verschmelzungen von fünf Wirbeln im Kreuzbeinbereich besteht sie aber in der Regel aus 32 Wirbelsegmenten. Die stammesgeschichtlichen und embryonalen Mitten der Segmente bilden die Bandscheiben, während die Segmentgrenzen durch die Mitte der Wirbelkörper ziehen. Da die Wirbelsäule trotz ihrer tragenden Funktionen alle notwendigen Rumpfbewegungen erlauben muss, ist sie nicht nur selbst kompliziert gebaut, sondern verfügt auch über einen ausgeklügelten Halte- und Bewegungsapparat. Am beweglichsten ist die Wirbelsäule im Bereich der Halswirbel, gefolgt von den Lendenwirbeln. Im Vergleich hierzu ist die Beweglichkeit dazwischen, im Abschnitt des Brustkorbs, stark eingeschränkt. Im verknöcherten Kreuzbein sind keine Bewegungen der Wirbel gegeneinander möglich. Beim Steißbein können etwaige, nicht knöchern verschmolzene Wirbelreste passiv etwas bewegt werden, was aber nur beim Geburtsvorgang eine gewisse Bedeutung hat.
 
Die Querschnittsflächen der Wirbelkörper und die dazwischen gelagerten Bandscheiben werden mit zunehmender statischer Belastung vom Kopf-Hals-Bereich bis zum Ende der freien Wirbelsäule am Übergang zum Kreuzbein immer größer. Da die Druckbelastung im Kreuzbeinbereich auf den Beckengürtel und die Beine übergeht, sind die Wirbel des Kreuz- und Steißbeins wieder kleiner.
 
Die Bandscheiben bestehen aus dichtem Faserknorpel und fungieren als gallertgefüllte Kissen, die besonders außen ein kollagener Faserring umschließt. Die Scheibe wird von einem ringförmigen Band wie ein Fass durch seine Bandeisen gefesselt und trägt daher ihren Namen. Durch den Binnendruck in den Bandscheiben, besonders bei Verkantungen der Wirbelkörper, kann dieser Faserring platzen, wobei das gallertige Kissen sich vorstülpt oder gar austritt. Solche Verkantungen sind wegen der natürlichen Krümmungen der Wirbelsäule ohnehin in geringem Maße vorhanden. Bei starken Bewegungen unter Belastung können sie kritisch werden. Wenn ein solcher Vorfall einer Bandscheibe auf der dem Rückenmark zugewandten Seite geschieht, kann die das Rückenmark umgebende harte Rückenmarkshaut eingedrückt und das Rückenmark selbst gequetscht werden. Das kann zu Schmerzen oder zu Lähmungen in den Versorgungsgebieten der von diesem Abschnitt aus absteigenden Spinalnerven führen.
 
Wirbelsäule und aufrechter Gang
 
Von der Seite gesehen, besitzt die menschliche Wirbelsäule eine doppelt s-förmige Krümmung. Auf eine Krümmung nach vorn im Halsabschnitt folgt ein Rundrücken der Brustwirbelsäule, der sich ein Hohlrücken des Lendenwirbelabschnitts anschließt. Unmittelbar darunter sind Kreuzbein und Steißbein wieder im Sinne eines Rundrückens gekrümmt. Bei den nah verwandten Menschenaffenarten fehlt insbesondere der Hohlrücken in der Lendenregion. Früher nahm man an, dass der menschliche Hohlrücken eine stammesgeschichtlich erworbene Anpassung an die aufrechte Haltung des Menschen sei. Sie ist jedoch kaum das Ergebnis erblicher Veränderungen und funktioneller Selektion, sondern wird — zumindest maßgeblich — durch die veränderten auf die Wirbelsäule einwirkenden Kräfte beim Gehenlernen des Kleinkindes passiv erzwungen.
 
Diese Behauptung wird durch die Feststellung belegt, dass zum aufrechten Gang und Tanz abgerichtete Japanische Rotgesichtsmakaken nach einiger Zeit eine solche Doppelkrümmung entwickeln. Zwei Beobachtungen am Menschen erhärten die Hypothese weiter. Von Geburt an stark behinderte, immer bettlägrige Menschen entwickeln keinen Hohlrücken. Noch schlagender ist die Feststellung, dass bei Astronauten unter Bedingungen der Mikrogravitation, ohne die senkrechte Belastung durch das Körpergewicht, die Lendenwirbelsäule nicht gekrümmt bleibt; sie nimmt spontan eine Form ähnlich jener der nächstverwandten Menschenaffen an. Die menschliche Wirbelsäule hat also die Anpassung an den aufrechten Gang genetisch noch gar nicht vollzogen. Auf einer solchen erblichen Fixierung der Gestalt besteht auch kaum ein Selektionsdruck, da sich die Doppelkrümmung passiv und bei der Aufrichtung des Kleinkindes quasi von selbst einstellt. Möglicherweise könnten die fehlenden oder noch sehr geringfügigen Anpassungen des Achsenskeletts an den aufrechten Gang in Verbindung mit einem heute durchschnittlich höheren Sterbealter einer der Gründe für die außerordentliche Häufigkeit von Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule sein.
 
Die Statik des Körpers beim Tragen von Lasten
 
Beim Tragen von Lasten, beispielsweise einem Koffer, muss die Zugkraft, die von einem Gewicht ausgehend von den Fingern der tragenden Hand übernommen wird, auf die Sohle vom Fuß des Standbeines und so auf den Erdboden übertragen werden. Das Gewicht (1) lastet als Druckkraft auf den Beugeseiten der Finger (2). Dieser die Finger aufbiegenden Kraft wirken die kurzen Beugemuskeln in der Hand und vor allem die lange Beugemuskulatur am Unterarm (3) durch ihren Zug entgegen. Diese Muskeln entspringen an den Unterarmknochen und der dortigen Zwischenknochenmembran (4) sowie am unteren Ende des Oberarmknochens (6). Die Strukturen des Unterarms gelangen alle unter Zug, auch die Bänder des Ellenbogengelenks (5). Das Gewicht zieht daher zunächst auch am Unterarmknochen. Letzterer findet aber ein Widerlager gegen den Muskelzug im Ellenbogengelenk selbst, womit der Oberarmknochen schließlich auch Druck aufnimmt. Insbesondere der Deltamuskel (7) übernimmt nun das Gewicht. Sein Zug presst den oberen Gelenkkopf des Oberarmknochens gegen die Gelenkpfanne des Schulterblattes (8), das so die Zugbeanspruchung an den absteigenden Teil des Trapezmuskels (9) übergibt. Er verhindert, von den oberen Halswirbeln und dem Hinterhauptsbein entspringend, ein Absinken des Schultergürtels. Der Trapezmuskel überträgt die Kraft auf den Schädel (10) und verleiht ihm einen Zug in den Nacken sowie den einer Seitwärtsneigung. Dieser Bewegung wird durch stabilisierende Aktivität der Halsmuskulatur der Gegenseite entgegengewirkt (11). Zur Erhaltung des Gleichgewichts muss der Arm der Gegenseite je nach Gewicht des Koffers mehr oder weniger angehoben werden (12). Das Gewicht des Koffers hängt also letztlich am Hinterhaupt und an dem Nacken der Person.
 
Gleichzeitig wirken diese Zugkräfte nach einer Umlenkung auf die Halswirbelsäule (13) als Druckbelastung, eine Beanspruchung, die sich zunächst kontinuierlich bis zum Kreuzbein als Drucklast überträgt (14). Der seitlich am Körper aufgehängte Koffer übt ein Drehmoment auf die Wirbelsäule im Sinne einer seitlichen Rumpfneigung aus (15). Insbesondere die aufrichtende Muskulatur des Rückens auf der anderen Körperseite (16) verhindert ein Umkippen des Rumpfes zur Seite. Vor allem die äußeren Muskelstränge des Wirbelsäulenaufrichters (Musculus erector spinae), des Darmbein-Rippen-Muskels (Musculus iliocostalis) und des langen Rückenmuskels (Musculus longissimus dorsi) halten die Wirbelsäule stabil. Diese Muskeln sind in Längsrichtung der Wirbelsäule verspannt und üben bei Kontraktion daher einen starken Druck auf die Wirbelsäule und damit auch auf die Bandscheiben aus (17). Das Gewicht des Koffers lastet inzwischen quantitativ genau auf dem Promontorium (18), der letzten Bandscheibe der Lendenwirbelsäule, und wird von ihr dem Kreuzbein (19) übergeben. Letzteres ist mit den Kreuzbein-Darmbein-Bändern am Beckengürtel aufgehängt, sodass nun die Gewichtskraft von den Beckenknochen, vornehmlich wieder als Zug- und Biegebeanspruchung aufgenommen wird (20).
 
Da der Kopf des Oberschenkelknochens das Becken seitlich davon im Hüftgelenk unterstützt (21), bewirkt das Gewicht des Koffers im Kreuzbein ein seitliches Kippmoment des Beckens (22). Zwischen der Rückseite der Darmbeinschaufel und dem großen Rollhügel verlaufen der mittlere und der kleine Gesäßmuskel (Musculus gluteus medius und minimus) (23). Sie halten das Becken und damit alle weiteren, sonst in labilem Gleichgewicht darüber befindlichen Körperteile zu deren Stabilisierung fest. Der Zug dieser beiden Muskeln bewirkt eine kräftige zusätzliche Druckkomponente auf das Hüftgelenk (21).
 
Von nun an wechseln die Zugleistungen der Beinmuskulatur und die Druckbeanspruchungen in den Knochen und Gelenken einander ab. Die Streckmuskulatur des Ober- und Unterschenkels (24, 27), bewirkt eine Kompression sowohl im Oberschenkelknochen (25) und im Schienbein (28) als auch im Kniegelenk (26). Sie wirkt hierdurch als Drucklast auf das obere Sprunggelenk (29) und spannt den Längsbogen des Fußes (30), weil dieser vornehmlich auf der Ferse und vorne im Bereich der Grundgelenke der Zehen aufliegt. Der Druck wirkt nun auf das Fußsohlengewebe. Die Drucklast auf der Fußsohlenhaut wird letztlich durch Zugverspannung des Fußbogens und durch die Zugbelastung auf den Wänden der unter Druck stehenden Zellen des Sohlengewebes (31) aufgenommen. Als Gegenkraft zu dieser im Körper auftretenden Kraft kann man nun die Gewichtskraft auf der Unterlage einer Waage messen, welche die Summe aus dem Koffer- und dem Körpergewicht anzeigt.
 
In dem Beispiel findet über 15-mal eine Überleitung von einer Zug- auf eine Druckbelastung und umgekehrt statt. Alle durch die Last und den Muskelzug erzeugten Dreh- und Kippmomente befinden sich an den Gelenken meist in labilem oder instabilem Zustand. Daher ist es umso erstaunlicher, dass die Muskeln, vornehmlich durch Haltereflexe gesteuert, genau in jenem Maß in Aktion treten, wie es für die Herstellung des Gleichgewichts notwendig ist. Wegen des labilen Gleichgewichts und der fast reibungslos arbeitenden Gelenke müssen alle muskulären Kräfte so eingestellt werden, dass die Summe aller inneren und äußeren Kräfte die Wirkungen des Gewichts exakt kompensieren. Das ist eine ungeheure Mess- und Einstellungsleistung, zumal das Beispiel sehr vereinfachend beschrieben wurde und hierbei mehrere Hundert anatomische Strukturen gleichzeitig betroffen sind.
 
Noch komplizierter sind die Mess- und Steuerfunktionen aller natürlich über Reflexe ablaufenden Bewegungen der Wirbelsäule beim schnellen Lauf. Als Besonderheit kommen hier die starken Drehmomente durch die seitlich schwingenden Massen der Gliedmaßen hinzu.
 
Grundlagen zur Anatomie des Beines
 
Ein Bein des Menschen wiegt durchschnittlich etwa 18—19 Prozent vom Gesamtgewicht des Körpers. Als Stützorgan des Individuums ist es damit etwa dreimal so schwer wie der Arm, der nur 6—7 Prozent der Körpermasse ausmacht. Es besitzt die größten Muskeln, den als Strecker des Hüftgelenkes wirkenden großen Gesäßmuskel (Musculus gluteus maximus) und den im Hüftgelenk beugenden und gleichzeitig im Kniegelenk streckenden vierköpfigen Oberschenkelmuskel (Musculus quadriceps femoris).
 
Die Körperproportionen eines Menschen und insbesondere die relative Länge seiner Beine ändern sich mit seiner körperlichen Entwicklung erheblich. Gemessen an der Höhe der Schambeinfuge, misst das Bein beim Neugeborenen nur wenig mehr als ein Drittel der Körperlänge, beim Erwachsenen dagegen ziemlich genau 50 Prozent. Auch die Gestalt des Beins ändert sich mit dem Lebensalter. Neugeborene besitzen nicht nur die für sie typischen und völlig normalen O-Beine, sondern auch ihre Hüft- und Kniegelenke sind gebeugt; die krummen Beinchen des Säuglings sind durch die Gestalt des Skeletts in diesem Alter bedingt.
 
Beim Erwachsenen verläuft die den Körper stützende Traglinie, von der Mitte des Oberschenkelkopfes ausgehend, hinter der Kniescheibe und dann entlang des Schienbeins zum oberen Sprunggelenk. Durch den Oberschenkelhals wird der Schaft des Oberschenkelknochens zur Seite verlagert: Er nähert sich zum Knie hin der Traglinie und bildet im Knie von vorn oder hinten gesehen einen Winkel, das physiologische X-Bein. Wegen der größeren Breite des weiblichen Beckens stehen auch die Gelenkpfannen für den Schenkelkopf etwas weiter auseinander. Daher ist das physiologische X-Bein bei Frauen ausgeprägter als bei Männern. Bei beiden Geschlechtern berühren sich beim geraden Stand normalerweise die Knie. Insbesondere bei jüngeren Frauen werden die Muskelkonturen des Beins durch das reichlichere und recht gleichmäßig verteilte Unterhautfettgewebe geebnet. Beim Mann berühren sich im Stand der zentrale Oberschenkelbereich und die Knie. Dazwischen befindet sich meist eine etwa handtellerhohe und fingerbreite Spalte, die nach dem Schneidermuskel benannte Sartoriusspalte, die bei vielen schlanken Frauen enger ist oder fehlt; bei ihnen liegen die Oberschenkel im Stand oft enger zusammen oder berühren sich.
 
Die Statik des Beckengürtels und des Hüftgelenks
 
Für die Funktionen des aufrechten Gangs haben die drei Knochen des Beckens, Darmbein, Schambein und Sitzbein, weitgehende Veränderungen erfahren. Beim Erwachsenen bilden diese knöchern verschmolzenen Elemente als rechter und linker Beckenknochen zusammen mit dem Kreuzbein einen knöchernen Ring, den Beckengürtel, der an drei Stellen durch nur sehr geringfügig bewegliche Gelenke unterbrochen ist. Bauchseitig befindet sich die Fuge der Schambeinsymphyse, ein sehr straffes, faserknorpeliges Gelenk, während auf der Rückenseite die beiden Darmbeinanteile des Beckenknochens im Darmbein-Kreuzbein-Gelenk mit Letzterem verbunden sind. Dieses Gelenk besteht aus kurzen, sehr dichten und festen Fasern und ist darüber hinaus durch die außerordentlich starken Kreuzbein-Darmbein-Bänder fixiert.
 
Der Gewichtsdruck des auf dem Becken lastenden Körpers wird über diese beiden Gelenke auf den Beckenring übertragen. Anatomen verglichen früher das Kreuzbein mit dem Schlussstein eines Gewölbes. Doch ist das Kreuzbein nicht von oben keilartig den beiden Darmbeinschaufeln aufgepropft, sondern hängt, mindestens teilweise, in dem eben erwähnten Band- und Faserapparat. So erzeugt es also weniger einen Druck, als dass es an seiner Aufhängung zieht. Wieder ist hier ein allgemeines Prinzip der biomechanischen Statik realisiert: Alle Druckbelastungen im Körper werden letztlich in Zug umgewandelt und von den kollagenen Bändern aufgefangen.
 
Das Hüftgelenk des Menschen ist als Anpassung an die aufrechte Haltung geringfügig überstreckbar. Daher liegt der Körperschwerpunkt auf der Standbeinseite etwas hinter der Mitte des Hüftgelenks. Während der Mensch bei gebeugtem Hüftgelenk nur mit ständiger Anspannung der das Gelenk streckenden Gesäßmuskulatur stehen könnte, bewirkt das Körpergewicht diese Streckung beziehungsweise die gestreckte Haltung nun »von allein«. Wie fast in allen Fällen, begrenzen auch hier kollagene Bänder die weitere Überstreckung: Das Darmbein-Oberschenkel-Band (Ligamentum iliofemorale) windet sich als Teil der Gelenkkapsel des Hüftgelenks, von der vorderen Seite des Darmbeins kommend, vorne dergestalt um den Schenkelhals, dass es bei einer Hüftgelenksbeugung lose ist und bei der Streckung des Gelenks eine weitere Überstreckung verhindert. Daher kann man sich mit vorgeschobener Hüfte bequem und ohne viel Muskelarbeit auf sein Standbein stellen. Die herausragende statische Funktion des Iliofemoral-Bandes wird auch in seiner Stärke deutlich: Mit über vier Millimetern Dicke ist es das stärkste Band des menschlichen Körpers.
 
Statik und Dynamik des Kniegelenks
 
Die wichtigsten Funktionen des Knies sind seine tragende Funktion beim Stand sowie seine Beugung und Streckung beim Gang und Lauf. Steht ein Mensch auf beiden oder, was häufiger vorkommt, auf nur einem Bein, hat er normalerweise das belas- tete Knie »durchgedrückt«. Der umgangssprachliche Ausdruck beschreibt eine geringfügige Überstreckung des Gelenks, meist um 5º oder etwas weniger, bis zu einem fühlbaren Anschlag. Der Anschlag entspricht einer Straffung der Kollateralbänder auf der Innen- und Außenseite des Gelenks, welche Oberschenkelknochen und Schienbein gegeneinander unbeweglich verbinden, als wäre das Kniegelenk versteift. Diese straffe Verbindung erlaubt in dieser Stellung keinerlei Bewegungen zwischen Oberschenkelknochen und Schienbein.
 
Wenn man im Stand ein Bein völlig entlastet, kann man den großen Rollhügel (Trochanter major) des Oberschenkelknochens am Spielbein etwa in Höhe des Handgelenks des hängenden Arms leicht finden und ergreifen. Rotiert man nun die Fußspitze des gestreckten Spielbeins nach innen oder nach außen, stellt man fest, dass sich nicht nur der Unterschenkel dreht, sondern auch das Hüftgelenk: Der Rollhügel an der Hüfte macht die Drehung genauso mit wie die Fußspitze, weil das Knie gleichsam physiologisch versteift ist.
 
Bei gebeugtem Knie hat das Gelenk eine völlig andere Mechanik. Die Gelenkrollen des Oberschenkelknochens haben in gebeugter Stellung einen kleinen und in gestreckter Stellung einen großen Radius. Dadurch bekommt das Gelenk in der Beugung Spiel, weil die es fesselnden Kollateralbänder für einen straffen Sitz zu lang sind. Auf einem Stuhl sitzend, kann man bei gebeugtem Knie die Fußspitze einwärts und auswärts drehen, da das Schienbein diese Bewegung als Drehung entlang seiner Längsachse im relativ lockeren Kniegelenk vollführt. Es braucht sie nicht, wie in der Streckung, auf den Oberschenkel zu übertragen. Das Gelenkplateau des Schienbeines auf der Innenseite des Knies rutscht durch den Zug der Oberschenkelmuskulatur bei einer Innenrotation der Fußspitze auf der unbewegten Gelenkrolle des Oberschenkels nach hinten auf die Hüfte zu. Durch eine Drehung des Oberschenkels wird bei gestrecktem Knie die Fußspitze nach innen beziehungsweise nach außen geführt.
 
Bei allen Bewegungen im Kniegelenk sind die halbmondförmigen Zwischenknorpel (Menisken) funktionell beteiligt. Es handelt sich um zwei in Aufsicht c-förmige, im Querschnitt keilförmige Faserknorpel, die sich den Gelenkrollen des Oberschenkels dicht anschmiegen und auf dem Schienbeinplateau flach aufliegen. Sie wirken als verschiebbare, elastische Polster und machen den Ablauf der Bewegungen im Kniegelenk gleichmäßiger. Bei der Streckung wirken sie als allmählich zunehmende Bremse. Insgesamt nehmen sie als elastische Puffer einen Teil des Binnendrucks im Kniegelenk auf.
 
Während das äußere Kollateralband an der Knieaußenseite von der Gelenkrolle des Oberschenkelknochens zum Köpfchen des Wadenbeines frei durch ein Fettpolster zieht, ist das Kollateralband auf der Knieinnenseite fest mit der Gelenkkapsel verwachsen. Die Kapsel entsendet ihrerseits Kollagenfasern in den Innenmeniskus. Rund 94 % der Meniskusverletzungen betreffen den Innenmeniskus, nur 6 % den Außenmeniskus. Durch die enge Verbindung der drei beteiligten Strukturen kommt es außerdem, besonders bei Sportlern, häufig zu gemeinsamen Verletzungen des Innenbandes mit dem Innenmeniskus, natürlich unter Beteiligung der Gelenkkapsel. Außenband und Außenmeniskus sind dagegen nur selten gemeinsam betroffen.
 
Eine wichtige Funktion im Kniegelenk erfüllen die beiden Kreuzbänder. Sie laufen in einem breiten Spalt, von den beiden Gelenkrollen des Oberschenkelknochens ausgehend, zu dem Areal zwischen den beiden Gelenkflächen des Schienbeins. Sie liegen innerhalb der Gelenkkapsel und, wie der Name andeutet, überkreuzen sich. Die Kreuzbänder tragen zu einer effektiven Stabilisierung des Gelenks in verschiedenen Stellungen bei. Sind sie gerissen, kann man bei gebeugtem Knie das Schienbein im Kniegelenk wie in einer Schublade vor- und zurückschieben. Häufiger als das hintere reißt das vordere Kreuzband; meist zerreißt jedoch nicht das Band selbst, sondern es kommt zu einem Ausriss der Verankerung des Bandes aus dem Schienbein.
 
Statik des Fußes
 
Am stärksten unterscheidet sich der Mensch von den Menschenaffen in der funktionellen Anatomie seines Gehirns und seines Fußes. Die Proportionen des menschlichen Fußes sind zugunsten einer über den Großzehenballen und die Großzehe abrollbaren Fußsohle verschoben. Die Zehen sind außerordentlich kurz. Im Gegensatz zu den Menschenaffen sind alle fünf Zehen parallel orientiert; die Großzehe ist nicht zangenartig den anderen Zehen gegenübergestellt. Ein Oppositionsgriff, wie bei der Hand durch den gegenüberliegenden Daumen, ist mit dem Fuß des Menschen nicht möglich.
 
Stattdessen hat der Fuß in der Evolution eine fälschlich als Fußgewölbe bezeichnete statische Struktur erworben. Der korrekt als Längsbogen des Fußes bezeichnete Aufbau besteht aus den knöchernen Bauelementen der Fußwurzel und des Mittelfußes, mit den Auflagepunkten an der Ferse und im Bereich der Zehengrundgelenke. Als nicht knöcherne Anteile treten kurze Muskelzüge und ein den Bogen verspannender Bandapparat in Längsrichtung des Fußes hinzu. Hervorzuheben sind hier das lange Fußsohlenband und die Sehnenplatte des Fußes, die Plantaraponeurose, zwei derbe Platten oder Stränge aus kollagenen Fasern, die in zwei Etagen vom Fersenknochen zu den Mittelfußknochen reichen. Sie verleihen dem Bogen maßgeblich seine Stabilität. Geben sie nach, sinken die Knochen des Fußbogens unter dem Druck des Körpergewichtes ab und bilden einen Plattfuß. Weit über den Fuß hinaus reichen die Verspannungselemente des Querbogens, den im Bereich des Würfelbeins und der Keilbeine kurze Bänder und Sehnen halten.
 
Prof. Dr. Carsten Niemitz
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Sport: Funktionen und körperliche Auswirkungen
 
 
Biomechanik des menschlichen Bewegungsapparates, herausgegeben von Erich Schneider. Berlin u. a. 1997.
 
Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper, herausgegeben von Gerhard Zweckbronner. Ausstellungskatalog Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim. Heidelberg 61997.
 Sobotta, Johannes: Atlas der Anatomie des Menschen. 2 Bände. München u. a. 201993.

Universal-Lexikon. 2012.

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